Mittwoch, 2. Mai 2012

Leben retten, Verletzungen mindern: Dem hehren Ziel des elektronischen Notrufs "eCall" stehen divergierende Interessen der Assekuranz und Automobilwirtschaft entgegen.


Die Anzahl der im Straßenverkehr tödlich Verunglückten hat im Jahre 2011 nach Jahren des Rückgangs erstmals wieder zugenommen. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) in seiner Pressemitteilung vom 24.02.2012 mitteilte, starben im vergangenem Jahr 3991 Menschen auf deutschen Straßen. Gegenüber dem Jahr 2010 kamen damit 343 mehr Menschen im Straßenverkehr ums Leben. Der seit 1991 erfreuliche Trend immer rückläufigerer Zahlen der Verkehrstoten ist damit gestoppt. Um die Zahl der im Straßenverkehr Verletzten und Getöten immer weiter zu senken, soll in den nächsten Jahren in jedem Fahrzeug ein elektronisches Notrufsystem implementiert werden.
Dieses unter dem Namen “eCall” federführend initiierte Vorhaben der Europäische Kommission soll bei einem Unfall und einer anderen Notsituation den Rettungsdienst informieren können - sowohl automatisch ohne weiteres Zutun des Fahrers oder der Insassen, als auch manuell durch Betätigen einer entsprechenden Taste. Bei einem Verkehrsunfall soll beispielsweise über die Fahrzeug-Airbagsensoren automatisch ein Notruf an die nächste 112-Notrufzentrale abgesetzt werden. Zwischen den Fahrzeuginsassen und der 112-Notrufzentrale soll elektronisch über das Mobilfunknetz eine Sprachverbindung aufgebaut werden. Bei dieser könnten dann die Betroffenen, soweit möglich, weitere hilfreiche Details ihrer Lage mitteilen, um den Helfern von Anfang an eine zügige Hilfskoordination mit entsprechend notwendigen Maßnahmen zu gewähren. Wichtige Eckdaten soll das eCall-System im Notfall jedoch elektronisch an die Notrufzentrale übertragen. Zu diesen Informationen gehöre der Standort, bei Autobahnen die Fahrtrichtung, die Fahrzeug-Art, also z.B. ob es sich bei dem Unfallauto um einen PKW, Bus, LKW handelt, die Angabe, ob der Notruf manuell betätigt oder automatisch vom Bordsystem ausgelöst wurde. Diese sofortige Übermittlung der wichtigsten Daten verringere die Anfahrtszeit der Helfer. Diese kostbare Zeit bis zum Eintreffen der Sanitäter, z.B. bei Schwerverletzten nach einem Unfall, kann, so die Idee, Leben retten, die Verletzungsschwere verringern, durch Räumung der Unfallstelle Auffahrunfälle vermeiden sowie Staus verkürzen. Diese Kette von Vorteilen führe weiter zu einem geringeren Kraftstoffverbrauch und weniger umweltschädlichen Verbrauch von Kohlenstoffdioxid. Kurzum: All diese Verbesserungen kulminierten schließlich in einer höheren volkswirtschatlichen Leistungsfähigkeit. 


Der elektronische Notruf als Bestandteil des Internets der Dinge: So stellt sich die Europäische Kommission eCall in diesem Video vor.
Video: Europäische Kommission

Die Europäische Kommission zielt auf eine verbindliche Ausstattung des eCall-Systems in allen Neufahrzeugen bis zum Jahr 2015 hin. Fast alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben ihre Teilnahme am “emergancy call”, wofür die Paraphe “eCall” steht, zugesagt. Bedenken gibt es hinsichtlich des Datenschutzes. Die Ortung des Fahrzeuges erfolgt nämlich über das Satellittennaviganssystem GNNS - Global Navigation Satellite System. Wer hat wann und in welcher Intensität Zugriff auf den Standort des Fahrzeuges? Wie ist ein Missbrauch der Daten, z.B. um Bewegungsprofile nachzuvollziehen, sichergestellt? Hat der Fahrzeugeigentümer Mitspracherecht, welche Daten übermittelt werden dürfen? Welche sicherheitstechnischen Standards werden für eine sichere Kommunikation genutzt? Wo werden mit welchen Fristen Daten gespeichert? Das der Europäischen Union in Sachen Datenschutzfragen zuarbeitende Gremium, die “Artikel-29-Datenschutzgruppe”, spricht sich in ihrem Bericht vom 26.09.2006, “Eingriffe in den Datenschutz im Rahmen der Initiative eCall”, für einen freiwilligen Einsatz von eCall aus. “Auch wenn die Artikel 29-Datenschutzgruppe Bedenken im Zusammenhang mit dem eCall-System hat, gibt sie dem Konzept der freiwilligen Einführung des eCall-Dienstes den Vorzug und empfiehlt dieses”, heißt es im Fazit der Analyse. “Aus datenschutzrechtlicher Perspektive ist ein automatisch durch ein Gerät oder manuell ausgelöster und über Mobilfunknetze übertragener Notruf, der zur geografischen Standortbestimmung des Notfalls führt, grundsätzlich zulässig, sofern es diesbezüglich eine spezifische Rechtsgrundlage gibt und hinreichende Vorkehrungen im Bereich des Datenschutzes getroffen werden. Allerdings müssen stets die Zwecke des Notrufsystems und die Relevanz der zu verarbeitenden Daten berücksichtigt werden, insbesondere in Fällen, in denen die Verarbeitung die so genannten erweiterten Daten (Full Set of Data, FSD) umfasst.”
Die Frage der Datenhoheit spielt für die mit der Einführung und dann laufenden Bearbeitung von eCall vebundenen Interessengruppen eine sehr wichtige Rolle. Die Assekuranz betrachtet die Einführung des elektronischen Notrufes durch die Automobilwirtschaft deshalb mit Argwohn. “Die deutschen Autoversicherer weisen die EU-Kommission darauf hin, bei der Umsetzung ihrer Pläne sicher zu stellen, dass der freie und faire Wettbewerb rund um das Kraftfahrzeug erhalten bleibt”, heißt es im “Positionspapier” des GDV zum eCall.
Hintergrund der Sorge der Versicherungswirtschaft ist das mühevoll aufgebaute Schadenmanagement. Sind die Versicherungsnehmer nun endlich “erzogen” worden, den Unfall noch möglichst vom Schadenort aus zu melden, damit der mit der Versicherung vertraglich verbundene Abschleppdienst vom Versicherer beauftragt wird, ergibt sich für die Autoversicherer mit der Einführung von eCall eine neue Situation. Wer entscheidet, welcher Abschleppdienst beauftragt wird? Die Kontaktaufnahme des Versicherungsnehmers und Anspruchstellers direkt nach dem Unfall, bietet der Assekuranz und der Assistance über das Abschleppen hinaus erhebliche Steuerungsmöglichkeiten. Die Unfallbeteiligten werden idealerweise zur Partner-Werkstatt des Versicherers abgeschleppt. Dieser ist der Regulierungsablauf bekannt, die Stundenverrechnungssätze vereinbart. Von der Partner-Werkstatt erhält der Versicherungsnehmer und Anspruchsteller einen Mietwagen. "Überzogene" Mietwagen-Rechnungen mit externen Firmen sind so ausgeschlossen. Der Sachverständige wird erst bei Bedarf, also nicht bei einer Schadenhöhe von z.B. 1.600 EUR, eingeschaltet und hat ebenfalls eine Honorarvereinbarung mit dem Versicherer abgeschlossen. 
Aus diesem Grunde “besteht die Gefahr”, so der GDV, “dass Automobilhersteller oder die von diesen beauftragten Betreiber durch das Design des eCall-Systems einzelne Märkte dauerhaft abschotten könnten - zum Nachteil der Verbraucher.” Es stellt sich somit die Frage, wie gewährleistet werden kann, dass der Versicherungsnehmer und Anspruchsteller nicht automatisch vom im Auftrag des Herstellers arbeitenden Abschleppdienst in die nächste Hersteller-Werkstatt abgeschleppt wird. Dass das System eCall früher oder später Realität wird, ist absehbar. Ob die Einführung tatsächlich 2015 für alle Neufahrzeuge vonstatten gehen wird, wird sich zeigen. 
Die mit eCall einhergehende Implikation der Datenhoheit und Entscheidungsfreiheit der Kunden wird meines Erachtens tatsächlich nur eine, wenn auch wichtige, Herausforderung der Assekuranz darstellen. Bereits jetzt vorauszusehen ist die Entwicklung einer eigenen Branche rund um die technisch-digitale Vernetzung der Mobilität und damit von Kraftfahrzeugen. Über den eingangs erwähnten Minimaldatensatz hinaus, kann technisches Equipment Auskunft beispielsweise über Route, Geschwindigkeit, Anzahl der Insassen, Aufprallart, Sicherheitsgurt erteilen. Wie geht die Assekuranz mit diesen erweiterten Möglichkeiten um? Wie kann das Schadenmanagement intelligent neuen Anforderungen angepasst und erweitert werden? Wie können die sich korrelierenden Interessen ausgewogen gelöst werden? Ergeben sich daraus auch für die Assekuranz neue Geschäftsfelder? (ucy)